18. Juli 2022
Reise nach Mittelerde – Lesewoche in der Stadtbibliothek
KÖNIGSTEIN – Rainer Rudloff liest auf der Burg mitreißend aus Tolkiens „Der Hobbit“
Die Lesung „Der Hobbit“ mit Rainer Rudloff auf der Königsteiner Burg.
Foto: jens priedemuth
Rot lodern die Flammen des Lagerfeuers. Um den prasselnden Haufen Holz mitten im Wald sitzen drei wahrlich ungemütliche Gesellen, lecken sich die fetttriefenden Finger vom gerade verspeisten Hammelfleisch. Wo wir gerade beim Thema sind: Wie die jüngste Beute anrichten, 13 zarte, delikate Zwerge?
Darob entspinnt sich ein heftiger Streit, immer wieder angefacht von einer Stimme aus dem Hintergrund, von der jeder glaubt, ein anderer von ihnen habe gesprochen. Bis die Nacht entweicht und der erste Sonnenstrahl das Grün Mittelerdes umfängt. Pech für die geschwätzigen und streitlustigen Trolle – sie erstarren zu Stein. Bilbo Beutlin kann seine 13 eingeschnürten Wegbegleiter aus ihrer misslichen Lage befreien.
Erstklassige Kopfkinoqualität
Die kleinen und großen Zuhörer sahen sie förmlich vor sich, die Welt der Hobbits, Trolle und Elben, des Drachen Smaug in der sattgrünen Auen- und schroffen Gebirgslandschaft, in der Unterwelt der Höhlen und Gänge von Mittelerde, die Rainer Rudloff zum Leben erweckte. Der Magier der Stimmen und Stimmungen verzauberte sein Publikum regelrecht auf den Stühlen und Bänken im abendlichen Halbschatten des Burghofs. Sie wurden dergestalt zu Begleitern von John Ronald Reuel Tolkiens „Hobbit“ auf seinen gefahrvollen Wanderungen durch mythisch-archaische Landschaften.
Den kreisrunden Brunnen nutzte Rudloff als Bühne, das erste Kapitel vorzutragen. Was viel zu wenig gesagt ist. Aus dem Erzähltext formte Rudloff regelrecht eine fortschreitende dramatische Inszenierung, episches Theater gleichsam, mit erstklassiger Kopfkinoqualität.
Wie intensiv und akribisch er sich mit der Handlung und den Charakteren beschäftigt hat, zeigte die bis in kleinste Details hinein durchgestaltete Eröffnungsszene. Charaktervoll färbte Rudloff den Zauberer Gandalf, den gutgesinnten Hobbit Bilbo, der an seinen Aufgaben und Abenteuern unmerklich, jedoch stetig wächst, und seine künftigen Gefährten.
Die Troll-Szene gewann einen großen Teil ihrer deftigen Komik aus Dialekt und Stimmfarbe. Dialekte, das wusste Tolkien nur zu genau, verweisen in England auf die soziale Bedeutung, streute Rudloff als Erläuterung ein.
In kräftigen Tönen malte der Schauspieler die plumpen Gesellen. Meisterhaft gelangen ihm die Schattierungen von Gehässigkeit und Schadenfreude der nicht minder schwatzhaften Spinnen, die alle Zwerge in ihren klebrigen Netzen gefangen hielten und beinahe auch Bilbo erwischt hätten.
Einige Sätze zitierte der Anglist aus dem englischen Original. Die poetische Kraft Tolkiens sei ungeheuer stark, während der Film „banalisierte Dialoge“ enthalte. Diese erzählerische Kraft teilte sich bei der Begegnung Bilbos mit dem Drachen Smaug unmittelbar mit. Beispielsweise wenn das feuerspeiende Schuppentier im Schlaf schnurrt wie ein Riesenkater oder der Dichter das gespenstisch heiße Dunkel der Gänge hin zur Drachenhöhle schildert. Dass manches Motiv aus nordischen Göttersagen darinnen steckt, aus dem Nibelungenlied und Wagners „Ring“, wurde gleichermaßen offenbar.
Bei Tolkien macht der Ring unsichtbar und damit mächtig. Smaug fühlt sich indes genauso unverwundbar wie Riese Fafner, der als Lindwurm den Nibelungen-Schatz hütet, oder Siegfried. Einen kahlen Fleck hat er freilich auf der linken Brustseite, Bilbo erblickt ihn, als der Drache sich selbstverliebt räkelt. Und mit seinem geraubten Reichtum prahlt er Alberich ähnlich.
Das winddurchwehte ruinöse Gemäuer der Burg nutzte Rudloff virtuos als Bühne. Aus der Fensterhöhle des ehemaligen Treppenhauses zur Burgkapelle sprach er eher ruhige Passagen, den Mauerstumpf unter dem Bergfried nutzte er als Aktionsfläche für den Kampf mit den Spinnen. Den Text hatte er weise gekürzt. Die Handlung schillerte durch, ohne zu viel zu verraten und die Neugier zu wecken, den märchenhaften Mythos ganz zu lesen.
Die Reise in die phantastische Welt Mittelerdes bildete den Höhepunkt der Lesewoche der Königsteiner Stadtbibliothek. Leiterin Simone Hesse dankte ausdrücklich dem Lions Club der Kurstadt für die Unterstützung, die den Abend erst ermöglicht habe.
Quellenangabe: Taunus Zeitung vom 18.07.2022, Seite 14