Zur Charterfeier des Clubs Smolyan in Bulgarien 03.05.- 07.05.2000.
Als wir uns am 3.5. um 16.15 Uhr am Flughafen Frankfurt versammeln, streiken
die bulgarischen Piloten der Balkan Air. So fliegen wir erst nach Mitternacht mit einer türkischen Chartermaschine über Berlin-Schönefeld nach Sofia, wo wir um 4 Uhr morgens von unserem Lionsfreund Dimitar Bosduganow empfangen und – nach kurzem Feilschen mit den Taxifahrern – ins Hotel Bulgaria geleitet werden. Dimitar ist als junger Musiker aus Sofia an das Frankfurter Museumsorchester gekommen und erst seit der Wende wieder häufig in Bulgarien. Seine Betreuung ist für uns Sprach- und Landesunkundige von grossem Vorteil.
Anlass der Reise der fünf Lions aus Königstein ist die Charterfeier des Lionsclubs Smolyan, dessen Gründung unser Club durch Übernahme der Kosten für die Gründung und den ersten Jahresbeitrag der 32 Mitglieder unterstützt. Begleitet werden wir von PDG Klaus Haase, der bereits 9 Mal im Land war, um die Gründung neuer Clubs zu fördern.
Es ist sonnig, aber sehr frisch im 600 Meter hoch gelegenen Sofia. Die höheren Berge in der Umgebung sind noch von Schnee bedeckt. Die kühle Morgenluft vertreibt unsere Müdigkeit schnell, als wir bei einem Spaziergang mit Dimitar erste Eindrücke von Sofia sammeln: Breite Pflasterstrassen und viele Parks im Zentrum, der grosse Boulevard tagsüber für Autos gesperrt. Sehr schöne Griechisch- und Russisch- Orthodoxe Kirchen, eine im Untergeschoss eines mehrstöckigen Hauses verborgene griechisch-orthodoxe Kirche aus der Zeit der Türkenherrschaft, eine Moschee, ein im Stil einer Moschee erbautes grosses ehemaliges Badehaus, das gerade renoviert wird. Viele Gebäude im Zentrum, zumeist aus dem Anfang des 20. Jahrhunderts, sind in sehr gutem Zustand. Abseits der Hauptstrassen allerdings sieht man, wie in der ehemaligen DDR kurz nach der Wende, dass sich über lange Zeit niemand um die Erhaltung der Gebäude gekümmert hat. Auch der Benzin-Öl-Geruch, den die vielen Ladas, Trabbis und andere oft sehr alten und in schlechtem Zustand befindlichen Opel Kadett u.a. verbreiten, erinnert an diese Zeiten.
Die sehr geringe Zahl von Autos der Mittel- oder Oberklasse spiegelt eine
Einkommensstruktur wider, wie sie viele ehemals sozialistische Länder
hinterlassen haben Der Balkankrieg und vor allem die Sperrung der Donau
haben die wirtschaftlichen Probleme verschärft. Es gibt Armut, die sich
allerdings nicht aggressiv äußert. In dem grossen Park vor der russischen Kathedrale allerdings wird an vielen Flohmarktständen täglich vom russischen Leninorden bis zur Ikone alles zu Geld gemacht, was irgendeinen Wert hat.
Gegen Mittag fahren wir über die Autobahn nach Plovdiv, wo uns Gründungspräsident Malamow aus Smolyan bereits erwartet. Plovdiv, 341 vor Christus von Philipp II von Makedonien als Philippopolis gegründet, wurde von den Thrakern später Pulpudeva genannt, woraus dann Plovdiv wurde. Wir sind also auf sehr geschichtsträchtigem Boden, als wir auf dem zum Glück nicht von einer Teerschicht zugedeckten holprigen alten Kopfsteinpflaster durch die Altstadt laufen, ein römisches Amphitheater besichtigen und zum ersten Mal ein typisch bulgarisches Mittagessen einnehmen. Mit dem obligatorischen Schnaps vorweg, einem Salatteller aus Tomaten und Gurken, mit Schafskäse bestreut, den man sich mit Essig und Öl selbst würzt. Der sehr gute bulgarische Rotwein passt gut zum folgenden Hauptgericht aus Lammfleisch und gegrillten Würstchen.
Danach geht es weiter in unserem aus Deutschland vom Fahrer selbst gebraucht importierten Mercedes-Kleinbus-Transporter. Bis zu unserem Zielort Pamporovo im Rhodopengebirge, ca. 20 km von der nordgriechischen Grenze entfernt, brauchen wir etwa 3 Stunden. Denn die Strasse ist sehr kurvenreich und führt durch enge Täler. Dazu müssen wir auf ca. 1500 Meter steigen. Das Gebiet um Pamporovo ist etwa 15 km von Smolyan entfernt und ist das bekannteste Skigebiet Bulgariens. Wir sind in einem erst vor wenigen Monaten eröffneten 4-Sterne-Hotel untergebracht, das auf einem Gebirgssattel liegt und eine herrliche Aussicht auf die umliegenden Wälder und Berge bietet. Abends Essen mit unseren Freunden aus Smolyan. Die Verständigung ist teils in Deutsch oder Englisch gut, teils sehr schwierig. Aber das beeinträchtigt nicht die sehr herzliche Atmosphäre.
Am Freitag treffen wir uns nach einer Fahrt durch die Berge und Besichtigung des größten Observatorium des Balkans – mit herrlicher Sicht bis zu den nordgriechischen Bergen der Rhodopi – zum Mittagessen in Smolyan, besichtigen die von einem Lions geleitete Bibliothek und unterhalten uns in einer kleinen Nachbargemeinde mit dem Bürgermeister. Er möchte den ehemals florierenden Badebetrieb wieder beleben. Smolyan ist mit 1010 Metern Meereshöhe die höchstgelegene Stadt Bulgariens. 40 000 Einwohner arbeiten in
– der Textilindustrie (Pullover, Socken, Unterwäsche, z.T. für C & A.)
– der Forstwirtschaft ( es gibt ausgedehnte Fichtenwälder )
– dem Tourismus ( Smolyan-Pamporovo ist mit das bedeutendste Skigebiet Bulgariens) oder
– als Geschäftsleute, Handwerker und Kleinbauern.
Der Boden ist sehr karg im Gebirge und die handtuchbreiten, nur von Hand zu bearbeitenden Äcker entlang den Bergstrassen, zeigen deutlich wie hart das Leben der kleinen Bauern ist. Aber die hier gezogenen Kartoffeln sollen besonders gut sein. Auch gibt es noch alte Leute, die etwas Brennholz auf ihrem Rücken oder Heu auf Eseln in ihr Dorf transportieren.
Von Smolyan aus sind es nur ca. 20 km bis zur griechischen Grenze. Die Rhodopen bilden allerdings eine schwer zu überwindende Barriere. Der neugegründete Club Smolyan hat 32 Mitglieder. Darunter sind Ärzte, Lehrer des örtlichen Gymnasiums bzw einer Fachhochschule, Ingenieure, der Leiter des Stadtarchivs, sowie Geschäftsleute. Der Gründungspräsident ist Anwalt. Obwohl erst etwa 35 Jahre alt, war er bereits Bürgermeister von Smolyan. Überhaupt ist das Durchschnittsalter von 35 Jahren im Vergleich zu vielen deutschen Clubs niedrig.
In Bulgarien gibt es jetzt insgesamt 17 Clubs. Die Gründung von 11 dieser Clubs wurde vom Distrikt 111 MN unterstützt, unter besonderem Einsatz von PDG Haase und Dimitar Bosduganov. Drei dieser Clubs sind Damenclubs, deren Mitglieder alle berufstätig sind. Dazu gibt es gemischte Clubs. Der Anteil der Damen insgesamt beträgt 27%.
Die Charterfeier, mit den Ansprachen des PDG Haase und unseres Präsidenten Dr. Geursen und der Charterübergabe an den Gründungspräsidenten Malamov, den jeweiligen Übersetzungen, sowie vielen Glückwünschen der anwesenden Präsidenten der anderen Lionsclubs aus Sofia, Plovdiv, Russe, Varna etc. dauert mehr als 2 Stunden. Das folgende Festessen entschädigt uns durch die ganze Vielfalt der bulgarischen Küche. Und wir haben das Glück, mit einem perfekt Deutsch sprechenden, in Dresden zum Diplomingenieur ausgebildeten Mitglied des Lionsclubs Plovdiv am Tisch zu sitzen. Er ist selbständig im Computergeschäft tätig und reist häufig zu Messen nach Deutschland. „Plovdiv Evridike“ heißt der Damenclub, in dem seine als Ingenieurin ausgebildete und ebenfalls gut Deutsch sprechende Frau Mitglied ist. Der Orpheus-Eurydike Mythos soll in den Rhodopen enstanden sein.
Die reizenden jungen Mädchen in Mini-Röcken, die uns beim Essen bedienen, sind Schülerinnen des örtlichen Gymnasiums, wie mir ihr Mathematiklehrer verrät. Am Samstag ist St. Georgs-Tag, Festtag des bedeutendsten bulgarischen Heiligen, dessen Legende auf vielen Ikonen eindrucksvoll dargestellt ist.
Und man hat uns Überraschungen für diesen Tag versprochen: Nach einer Fahrt von ca. 50 km, d.h. 2,5 Stunden, erreichen wir in einem engen Tal- nach Überquerung abenteuerlich-primitiver Brücken aus Baumstämmen und Querbalken- die Tropfsteinhöhle Jagodinska Paschtera in einem 7 km langen Canyon . Wir wandern unter Anleitung eines Führers etwas mehr als eine Stunde durch einen Teil der insgesamt über 10 km langen Höhlengänge. Die Vielfalt und Mächtigkeit der Stalaktiten und Stalagmiten beeindruckt uns sehr, auch wenn dunkle Passagen, glitschige Eisentreppen und 6 Grad Durchschnittstemperatur manche Gänsehaut erzeugen.
Nach einem Mittagessen in einem einfachen Landgasthof erwartet uns dann ein faszinierender Folkloreabend, mit einer Kapelle, die auf traditionellen Instrumenten spielt, darunter ein Dudelsack, und Volkstänzen von vier Mädchen und zwei jungen Männern in alter Tracht.
Für das leibliche Wohl sorgt ein an einem grossen Grill geröstetes Lamm, das dann von zwei Männern an einem langen Pfahl durch das Lokal getragen und vom Koch vor aller Augen in mundgerechte Portionen zerteilt wird. Die von der Musik, dem guten Essen und reichlich bulgarischem Wein erzeugte Stimmung wird noch gesteigert durch die aktive Teilnahme der deutschen Lions an den anschließenden Gruppen-Volkstänzen. Sie schaffen ein fröhliches Gemeinschaftsgefühl. Eine spontane Sammlung unter den deutschen Lions ergibt 500.-DM für eine der zahlreichen und für die Region sehr wichtigen Activities des neuen Clubs.
Nach herzlicher Verabschiedung von unseren bulgarischen Freunden versuchen wir am nächsten Morgen möglichst früh nach Sofia zu gelangen, um unsere Chance für einen Ersatzflug via Lufthansa zu wahren, denn Balkan Air streikt noch immer. Diese Hoffnung erweist sich allerdings als eitel, trotz aller Bemühungen von PDG Haase, der als ehemaliger Lufthansakapitän über Insiderwissen und gute Beziehungen verfügt. Denn alle Flüge anderer Gesellschaften sind hoffnungslos überbucht.
Erst am späten Sonntagnachmittag eröffnet die Tatsache, dass Lufthansa am Montag einen grösseren Airbus 321 einsetzt, die Möglichkeit des gemeinsamen Heimflugs für den kommenden Nachmittag. Den zusätzlichen Tag in Sofia nutzen wir je nach Interessen: Die Schätze des Ikonenmuseum in der Krypta der Alexander Newski-Kathedrale, das die wertvollsten Stücke des Landes präsentiert, die Banja-Baschi-Moschee aus dem 16. Jahrhundert, die Rotunde Sveti Georgi im Innenhof des Sheraton Hotels, ursprünglich römische Kultstätte aus dem 4. Jh, bevor sie dem heiligen Georg geweiht wurde, machen aus der ungeplanten Verlängerung einen Gewinn. Der berühmte thrakische Goldschatz von Panagjurischke im historischen Museum allerdings ist mal wieder auf Reisen, in Helsinki.
Karl-Ludwig Ross, 2000