Weiße Pracht und bittere Not

Weiße Pracht und bittere Not
KÖNIGSTEIN – Rudolf Krönke blickt im zweiten Teil seines „Mythos Hauptstraße“ auf den Winter in der Kurstadt zurück

Rudolf Krönke (Mitte) hat mit Unterstützung der Lions um Heinz Alter (rechts) seinen „Mythos Hauptstraße“ weitergeschrieben. Das Faltblatt ist in der Buchhandlung von Thomas Schwenk (links) zu bekommen. FOTO: Jung

Die Dächer der Stadt sind wie Lebkuchenhäuschen in dichtes Weiß gepackt, die Fontäne des Kurpark-Brunnens ist zu einem mächtigen Eiszapfen erstarrt, und über die verschneite Königsteiner Hauptstraße trotten Kühe auf dem Weg zurück zum Stall.
Kühe auf der Hauptstraße und ein Stall noch gleich dazu? Spätestens an dieser Stelle dürfte der Leser stocken, auch ohne die dazu gehörigen Bilder zu kennen.
Ja, diese schwarz-weißen Kurstadt-Impressionen, die Rudolf Krönke aus seinem Foto-Archiv hervorgezaubert hat, haben schon einige Winter kommen und auch wieder gehen gesehen. Sie erscheinen heute wie aus einer anderen Welt – und doch hat Krönke vieles davon als Kind der Hauptstraße selbst noch erlebt und daher gut in Erinnerung.
Um auch jüngeren Königsteinern einen Eindruck davon zu vermitteln, wie die Generation ihrer Großeltern und Ur-Großeltern die Kurstadt erlebt hat, schreibt der Lokalhistoriker an seinem „Mythos Hauptstraße“.
Es ist eine Geschichte der Königsteiner Lebensader in mehreren Akten, die den Charme hat, dass man zum Verständnis weder Altgriechisch beherrschen noch ein abgeschlossenes Archäologie-Studium vorweisen muss. Kurzweilig, informativ und anschaulich soll das Ganze sein. Deshalb gibt es diesen Mythos – im Unterschied zu seinen antiken Vorbildern – auch nicht auf Pergamentrollen oder Tonvasen, sondern im handlichen wie reichlich bebilderten Faltblatt-Format.
Nachdem Krönke seine erste Ausgabe der Hauptstraße „im Spiegel der Königsteiner Stadtrechte von 1313“ gewidmet hatte, ist jetzt der zweite Teil erschienen: „Winter in Königstein“. Das, was der frühere Vorsitzende des Vereins für Heimatkunde dazu zusammengetragen hat, sieht wirklich noch nach Winter aus. Da fröstelt es den Betrachter schon beim Mitlesen. Nicht nur wegen der sich damals noch auftürmenden Schneemassen in der Stadt, sondern auch ob der Lebensbedingungen in den Nachkriegsjahren.
Es ging ums nackte Überleben
„Manche dieser Winter haben sich besonders tief ins Gedächtnis eingegraben. Dazu gehört sicherlich der legendäre Hungerwinter 1946/47, meteorologisch mit Temperaturen unter Null 70 Tage am Stück der kälteste Winter des Jahrhunderts“, blickt Krönke zurück. Es ging ums nackte Überleben bei zeitweise Minus 10 Grad. Wer konnte, beschaffte sich Feuerholz von irgendwoher, in Bad Homburg wurde zeitweilig sogar der Stadtwald zum Holzeinschlag für jedermann freigegeben. In Königstein nahmen die Kinder morgens im Ranzen Briketts mit in die Volksschule. „Irgendwoher musste der Brennstoff für den Ofen im Klassenraum ja kommen“, erzählt der Heimathistoriker und ergänzt: „Überall da, wo der Fensterkitt brüchig war, und das war er an vielen Stellen, zog es eisig durch die Ritzen in den Klassenraum hinein.“ Ein Hauch auf die Scheiben und die Eisblumen begannen zu schmelzen, für einen Moment wenigstens.
Zur bitteren Kälte kam die große Not. Krönke: „Damals kam vom Kölner Erzbischof Frings der legendäre Begriff des ,fringsen‘ auf, weil er in dieser Notsituation den Mundraub der Bürger an Nahrungsmitteln und Kohle und Holz rechtfertigte.“ Die Nahrungsmittel-Zuteilung in den Großstädten sei damals auf unter 1000 Kalorien pro Tag gesunken. Die Folge: Es setzte ein Beschaffungstourismus hinaus aufs Land ein, den man sich heute nicht mehr vorstellen könne.
Vertriebene zittern in Behelfsheimen
Die Zahl der Erfrorenen im Nachkriegsdeutschland und der Hunger, der ohne Care-Pakete an vielen Orten sicher noch drastischer in die Familien vorgedrungen wäre, seien mehr Thema in den Erinnerungen als die erste Landtagswahl am 1. Dezember 1946.
Der Lokalhistoriker unterstreicht, dass auch seine Familie Unterstützung von CARE erhalten habe, und lenkt den Blick anschließend auf das Schicksal der unzähligen Heimatvertriebenen in ihren Notunterkünften und damit auf ein Thema, das nach über 75 Jahren auf bedrückende Weise wieder aktuell geworden ist. Krönke: „Wie es den Bewohnern der Flüchtlingsheime an der Altkönigstraße und an der Frankfurter Straße auf dem ehemaligen Opel-Gelände erging, blieb uns Kindern damals verborgen.“
Dass Krönke und seine Schulkameraden ihre Kindheit dennoch genossen, vermag man sich heute nur schwer vorzustellen. Und doch schwärmt der Autor in seinem „Mythos Hauptstraße“ vom Eislaufen auf den zugefrorenen Weihern der Stadt, von Schneeballschlachten und endlos langen Schlitten-Partien. Vom evangelischen Pfarrhaus am Burgberg „ging es in Windeseile durch die Hintere Schlossgasse, quer über die Hauptstraße, die Gerichtstraße hinunter bis zum sogenannten Entenweiher“.

Das war zwar noch vor Heinz Alters Zeit. Der Königsteiner weiß jedoch aus Erzählungen seines Vaters noch davon, dass auch die Kirchstraße früher eine Rodelpiste war. Bei dem heutigen Verkehr wäre dies undenkbar.
Umso mehr freut sich Alter gemeinsam mit seinen Kollegen vom Lions-Club Königstein, dass Rudolf Krönke diese Zeit noch einmal aufleben lässt – mit Unterstützung der Kurstadt-Lions. Sie haben den finanziellen Löwen-Anteil beigesteuert, um den zweiten Teil des „Mythos Hauptstraße“ zu Papier zu bringen. Weitere Unterstützung kam vom Verein für Denkmalpflege und dem Verein für Heimatkunde, der auch als Herausgeber fungiert.
Wie bereits Teil I ist auch Teil II des „Mythos Hauptstraße“ reich bebildert. Der größte Teil der Motive wurde vom Königsteiner Haus- und Hoffotografen Franz Schilling abgelichtet. Zu sehen sind unten auch die Hauptstraßen-Rinder. FOTO: Privat
Von Freitag an erhältlich
„Die Geschichte der Stadt ist die Geschichte der Hauptstraße – und umgekehrt“, so lautet Rudolf Krönkes Credo, das er auch im zweiten Teil seines „Mythos Hauptstraße“ hochhält. Von Freitag, 3. Dezember, an ist das in einer 1000er-Auflage gedruckte Faltblatt kostenlos bei der Millennium-Buchhandlung (Hauptstraße 14) in der Fußgängerzone und der Kur- und Stadtinformation (Hauptstraße 13) zu bekommen. Außerdem wird der „Winter in Königstein“ beim Weihnachtsmarkt(3. bis 5. Dezember) am Stand der „Plasterschisser“ erhältlich sein. Auch wenn Teil II gerade erst fertig ist, hat Rudolf Krönke schon den Nummer III fest im Blick. Im kommenden Jahr soll ein Faltblatt erscheinen, dass sich der Hyperinflation 1923 und den Auswirkungen widmet, die der Wertverfall für Königstein und die Hauptstraße hatte. Die Leser werden unter anderem erfahren, wo damals in Königstein Geld gedruckt wurde und warum ein Brot eine Milliarden an Reichsmark kostete. sj

Quellenangabe: Taunus Zeitung vom 30.11.2022, Seite 16